Zusammengestellt für Gib-es-weiter - Erwin, GA Stuttgart, 28.11.2000
(Gib es weiter - Nr. 53 Anonyme Spieler(GA) Seite: 25 / 48)
GA Deutschlandtreffen 2000 auf der Ebernburg
Wir sind uns alle darin einig, daß Deutschlandtreffen von zentraler Wichtigkeit für die GA-Gemeinschaft sind. Dem wird mit dieser dreiteiligen Serie des GA-Rundbriefteams Rechnung getragen. Alle Beiträge zum Deutschlandtreffen 2000 werden unter dieser Rubrik gebracht werden.
(GE)DANKEN an MARIA
„Anne Kaiser gründete vor drei Jahren die erste deutsche Selbsthilfegruppe für Glücksspieler. Seitdem hat sie einige hundert Spieler kennengelernt. Spieler, die sich Hilfe und Rat - und häufig auch nur finanzielle Unterstützung - erhofften, wenden sich an sie. Wie oft sie nachts von Spielern in Not aus dem Schlaf geklingelt wurde, weiß sie nicht mehr zu sagen.
Als erstes erklärt sie jedem Spieler: „Ich kann dir nicht helfen. Du mußt dir ganz alleine helfen.“ Doch dann redet sie stundenlang mit jedem, der sich an sie wendet. Ihr zweiter Rat: „Bring deine finanziellen Verhältnisse in Ordnung, damit du den Druck im Nacken los wirst.“ Resigniert stellt sie manchmal fest: „Kaum einer hat das bisher geschafft“. Sie selbst machte ein Moratorium, um ihre Schulden in den Griff zu kriegen. Und sie spielt seit drei Jahren nicht mehr - noch nicht einmal „Mensch-ärgere-dich-nicht“ mit ihren Enkeln.
Anne Kaiser mitzuerleben, wenn sie sich in der Selbsthilfegruppe ein Gruppenmitglied vorknöpft und seine Lügen zerpflückt, die sie nur zu gut aus eigener Erfahrung kennt, ist Genuß und ein Schrecken zugleich. Viele Spieler erzählen, nur aus Angst, Anne Kaiser dort zu treffen, hätten sie sich in der ersten Zeit nach dieser Begegnung nicht mehr in Spielhallen getraut. Diese überwältigende Stärke ist es, die man zuerst an ihr wahrnimmt, doch dahinter verbirgt sich viel Zartheit und Verletzlichkeit.“
So leitet 1984 Ulla Fröhling in ihrem Buch „Droge Glücksspiel“ den Artikel über Maria ein - anonymisiert als „Anne Kaiser“ (Hervorhebungen von mir).
In der Neuauflage des Buches 10 Jahre später, in der Ulla Fröhling nachsah, was aus den Spieler und Spielerinnen von 1984 inzwischen geworden ist, war Maria die einzige, die spielfrei geblieben ist. Und da sie inzwischen verstorben ist, hat sie das verwirklicht, was vielen von uns - besonders als wir noch aktiv gezockt haben - bzw. noch am Zocken sind, als ein Traum erscheint, an dessen Verwirklichung wir oft genug verzweifeln: "Ein Leben ohne die Ausübung von Glücksspiel."
Zurück zum Deutschlandtreffen 2000 auf der Ebernburg. Mir gelang es am Samstag auch ohne Wecker und ohne Armbanduhr rechtzeitig auf zu stehen. Und da ich neben den Zeitmeßgeräten auch mein Blutzuckermeßgerät vergessen hatte, brauchte ich mir nicht ansehen, was die Schokoriegel des Ankunftsabendessen verursacht haben (die erste Messung wieder daheim, ergab übrigens einen für mich normalen Blutzuckerwert). Nach meiner morgendlichen „meditativen Gymnastik“ - die ich während meiner Spielfreiheit regelmäßig praktiziere - Zähne putzen, Rasieren und Duschen kam ich endlich beim Frühstück wieder was „anständiges“ zum kauen / verdauen. Danach war die Veranstaltung:
18 Jahre GA/GamAnon in Deutschland „Damals und heute“ - Meetingsleiter: Günter K. - u.a. ein Beitrag von Ulla Fröhling: „Leidenschaft und Verzweiflung - zum Tode von Maria“
Ulla Fröhling begleitete die Anfänge der Anonymen Spieler im norddeutschen Raum und kannte Maria persönlich. Sie erzählte eine sehr persönliche Geschichte von Maria. Ich kann dies jetzt nicht alles wiederholen, da ich während des Meeting nicht mit Aufschreiben beschäftigt war, sondern mit Aufnehmen. So werde ich jetzt kurz das für mich wichtigste aus Marias Leben beschreiben - als Vorlage verwende ich den Artikel über Anne Kaiser, sprich Maria, aus dem Buch „Droge Glücksspiel“ von Ulla Fröhling.
„ ... ich bin 57 Jahre lang brav, und im 58. fange ich plötzlich an, verrückt zu spielen. Plötzlich schmeiße ich alles über Bord, was ich mein Leben lang für absolut richtig gehalten habe: Ich lüge, betrüge, mache Schulden, verspiele mein Haus, das ich über die Maßen liebte, wo ich 30 Jahre sehr glücklich gelebt hatte. Bei allem hatte ich nur einen Gedanken: Wo kriegst du Geld her, um zu spielen? Roulette, Black Jack, Baccarat, fünf Jahre faszinierte mich das mehr als alles andere im Leben.“
Maria erzählt von der Unruhe, die sie überfällt, wie sie hektisch getrieben sich auf die Suche nach Geld macht und nachdem sie es hat ohne Rücksicht auf Kinder und Enkel zum nächsten Spiel getrieben wird. Wer von uns kennt das nicht? Und dann wieder die „gnadenlose Ehrlichkeit“, die auch nach Aussagen Hamburger Spieler charakteristisch für sie gewesen ist - und die vielen den Umgang mit ihr so schwer machte:
„... Der Spieler wird ein Schauspieler, der kann Dinge vortäuschen, dagegen bist du nicht gewappnet. Gaukler sind das. Die würden ihre eigene Großmutter ans Schafott liefern, um zu Geld zu kommen.“
Maria beginnt nach einem für sie „ungerechten“ Konkurs verbunden mit einem Verlust von 150 000.- DM zu spielen - angeblich um das Geld wieder zurückzugewinnen. Nach einem Jahr hatte sie ihr Haus verloren. Ausführlich beschreibt sie, mit welcher Schnelligkeit ihre Spielsucht sich ausbreitet.
„... Was dich beschäftigt, ist nur die Angst, daß dein Geld weniger wird und du nicht mehr spielen kannst, es ist nur die Freude, wenn du gewinnst, wie du nun weiterspielen kannst. Geld zu besitzen, ist wichtig, um das Glücksgefühl in dir zu haben. Du brichst auch nicht in Panik aus, wenn du alles verspielt hast. Ich war dann todmüde und hatte nur den Wunsch, eine Barcardi-Cola zu trinken und nicht alleine zu sein.
Allein sein ist grausam, dann wirst du an deinen Verlust erinnert, und sofort taucht der Gedanke auf, wo kriegst du neues Geld her?“
Maria läßt sich an der Spielbank sperren und offenbart ihrer Bank die gesamte Höhe ihrer Schulden - und daß es Spielschulden seien. Und dann gibt es trotz allem Spielrückfälle über Spielrückfälle - der Wahn vom „todsicheren System“ - zerschlägt eine Schallplatte mit Beethovens Neunte an einem Silvesterabend - nachdem sie schon alles kaputt gemacht hat, was sie je geliebt hatte - wollte sie auch keine „Ode an die Freunde“ mehr hören. Sie bekommt Kontakt mit den Anonymen Alkoholikern - versucht zu verstehen und spürt nur ihre unbändige Wut in sich:
„... Am liebsten hätte ich viele Leute umgebracht. Ich habe getobt vor Wut bis morgens früh, und dann bin ich spielen gegangen. Es hat doch keinen Zweck, den mächtigen Staat kannst du nicht treffen. Du kannst nicht mit einer Maschinenpistole nach Bonn gehen und den Minister des Inneren totschießen. Selbstjustiz gibt es nicht. Je mehr ich über meine Ohnmacht nachdachte, desto mehr spielte ich..“
Es folgt der letzte Rückfall.
„Ich weiß, ich darf da nie wieder hin. Das wäre mein Tod. Als ich aufhörte mit dem Spielen war ich fast 62 Jahre, hatte einen enormen Schuldenberg und wußte, daß ich kein ruhiges, gesichertes Alter haben werde.“
Dann gründete sie zusammen mit Peter W. die erste Selbsthilfegruppe für Spieler in Deutschland. Kontakte zu den amerikanischen Gamblers Anonymous entstehen. Maria spielt nicht mehr. Für sie wird ihr Spielen neben der Krankheit auch eine „Charakterschwäche“ bleiben, die es unerbittlich zu bekämpfen gilt. Auch wenn dies für viele Anonyme Spieler unverständlich bleibt.
Die Berichte von den meist Hamburger Spielern auf dem Deutschlandtreffen über Maria, lassen die Differenzen ahnen, die sie zu ihr hatten, und die Achtung über ihren Weg in die Spielfreiheit - die Schwierigkeit, ihre Klarheit und Härte zu verstehen - und die Trauer, daß Maria gestorben ist, ohne daß einer aus der GA-Gemeinschaft dies mitbekommen hat.
Mir selbst blieb hängen, wie Maria deutschnational und urkatholisch erzogen, ihre große Liebe zu einer Frau, jahrzehntelang vor der Öffentlichkeit verstecken mußte, aus Angst vor den Nazis und der auch nach 1945 nicht endenden „Verfolgung“ von Schwulen und Lesben, und wie auch in Gesprächen mit Ulla Fröhlich immer wieder Zweifel daran auftauchen, ob Gott sie verstehe - oder er als „Strafe für ihre Sünde“ ihr auch die Spielsucht auferlegt hat.
Falls es ein Leben nach dem Tode geben sollte, wäre es ein schöner Gedanke, daß drüben die beiden Liebenden wieder vereint sind - und es dort kein Glücksspiel mehr gibt - und sie dem etwas näher sind, an dem wir heute immer wieder unsere Zweifel haben, dem Göttlichen.
Für uns noch auf dieser Erde Lebenden möchte ich mit dem Absatz enden, den 1984 Maria uns Spieler und Spielerinnen auch mit auf den Weg durchs 3. Jahrtausend nach Christus gegeben hat:
„Für mich ist die Hauptsache, daß ich nicht spiele. Aber manchmal denke ich, das Leben kann doch nicht nur daraus bestehen, nicht zu spielen und immer darüber zu reden, wie nicht gespielt wird, und das geht dahin, das Leben, und da ist nichts mehr.
Für die Gruppe ist auch die Hauptsache, daß ich nicht spiele. Ein Zeichen setzen. Das macht mich traurig. Die Menschen mögen mich nicht einfach nur, weil sie mich eben mögen, sondern die kommen zum Mögen über irgendwelche Dinge, die sie erkennen, die ihnen nicht gegeben sind. Da ist kein Gernhaben. Ich möchte ganz einfach gerngehabt werden. Und mir auch mal meine Fehler um die Nase schlagen lassen. Ich habe doch genug davon.“
Quelle für alle Zitate: Ulla Fröhlich, Droge Glücksspiel, Mosaik Verlag, München 1984, Kapitel 6
„Anne Kaiser, 65, Handelsvertreterin, geschieden, ein Sohn, Stärker als die Liebe“,
Seite 114 – 152 (sämtliche Hervorhebungen von mir).
(zusammengestellt für Gib-es-weiter - Erwin, GA Stuttgart, 28.11.2000)
Wir alle brauchen in Zeiten der Verwirrung des Geistes ein Licht, das uns den Weg zeigt in Gesundheit und Genesung. Maria fand dieses Licht und wurde spielfrei. ... und wurde selbst zum Licht für viele auf ihrem Weg aus Glücksspielsucht. ... diese ganzen Lichter können uns ganz schön erleuchten oder heimleuchten, je nachdem wie wir es gerade nötig haben. (Erwin) ©