Erfahrungsberichte

Ralf P.

Ich bin verantwortlich

 

Mein Name ist Ralf. Ich bin Spieler und Alkoholiker.

 

In den ersten Jahren meiner Zeit bei den Anonymen Spielern(GA), wurde ich von Freunden aufgefangen und begleitet, die sich verantwortlich gefühlt haben. Die Freunde waren teils schon lange spielfrei und nüchtern. Weit entfernt von ihrem letzten Spiel. Weit entfernt von ihrem letzten Einsatz. Oft dachte ich: „Was wollen die denn überhaupt noch da? Was wollen die denn mit ihren hochgestochenen spirituellen Weisheiten? Was wollen die denn mit ihrem vermutlich nur angelesenen Wissen? Die wissen doch wahrscheinlich gar nicht mehr wie es sich anfühlt, wenn man völlig leer, ausgebrannt und ausgezehrt aus der Halle kommt.“ Und dann kamen wieder Gedanken und Gefühle, wie: „Dieser Freund, diese Freundin strahlt etwas aus, das ich gerne haben möchte. So möchte ich denken können. So möchte ich reden können. So möchte ich fühlen und mitfühlen können. So möchte ich sein. So möchte ich ...“ 

 

Spielsucht ist eine emotionale Krankheit. Der Schmerz meiner inneren Zerrissenheit, der Schmerz meiner tief empfundenen Verletzungen, der Schmerz meiner mir selbst zugefügten Wunden brannte wie Feuer in meiner von der Sucht geschundenen und gegeißelten Seele und ließ mich nie bei mir selbst ankommen. Lies es nie zu, dass ich zur Ruhe kommen konnte. 

 

Ich kann immer nur von mir selbst erzählen. Darum kann, darf, soll, und muss ich heute erzählen, dass ich in den Meetings der Anonymen Spieler(GA) zur Ruhe gekommen bin. Dass meine Seele zur Ruhe gekommen ist. Endlich zur Ruhe gekommen ist. Wie oft wäre ich ohne die Freunde, die sich verantwortlich für mich fühlten wohl gescheitert? Ich mag es mir nicht ausmalen. Ohne die Freunde, die sich verantwortlich fühlten, wäre ich vermutlich nicht mehr am Leben. Weil ich mich in meiner emotionalen Zerrissenheit hoffnungslos in meinem Leben verirrt hätte. Ich habe wahrlich alles in meiner Zeit in GA erlebt und durchlebt. „Hochs und Tiefs, Freude und Leid, Glück und Enttäuschung, Glaube und Unglaube, Annahme und Verwerfung, Nüchternheit und Trockenrausch, Leben und Sterben.“ Und trotzdem habe ich doch nur all das erlebt, was das Leben und das menschliche Miteinander nun mal so mit sich bringt. Eigentlich nicht mehr, und nicht weniger. Oder vielleicht doch? Ja, etwas war entscheidend anders. Die Akzeptanz und die Liebe mit der man mich ohne Ansehen meiner Person angenommen hat. Ohne Bedingungen. Ohne Hintergedanken. Ohne Falschheit. Ohne Selbstdarstellung. Ohne auch nur irgendetwas von mir zu fordern oder zu erwarten. Endlich durfte ich Mensch unter Menschen sein. Die Sucht, ihre Auswirkungen und langandauernden Folgeerscheinungen haben mir sämtliche Kraft und Energie entzogen, die ich gebraucht hätte, um mein Leben noch meistern zu können. Jetzt spürte ich, dass Hoffnung nicht nur ein Wort ist, sondern das Wertvollste was Gott uns nach der Liebe je an Empfindung geschenkt hat. Glaube, Liebe, Hoffnung. Alles bekam ich in GA vorgelebt. Alles bekam ich in GA geschenkt. Womit ich beim ersten Schritt bin. Genesung beginnt mit der geistigen Erkenntnis des ersten Schrittes. Mit der Erkenntnis, dass ich ein machtlos vor mich hintreibendes Stück Hilflosigkeit bin, das aus sich selbst heraus nicht mehr überlebensfähig ist. Darum weiß ich auch heute, 24 Jahre nach meinem letzten Spiel, 24 Jahre nach meinem letzten Schluck, dass ich verantwortlich bin. Nicht nur für mein Leben. Nicht nur für mich, sondern auch für die, die heute und in der Zukunft so sinnlos vor sich hintreiben und zu ersaufen drohen. Für die, die ICH einmal war. 

 

Im Neuen Testament gibt es eine mich nachdenklich stimmende Geschichte, die mich immer ermahnt, es mir nicht zu bequem zu machen, in meinem durch Gnade geschenktem neuen Leben. Denn was ist es denn, außer einer Gnade, dass sich Menschen in dieser Welt immer wieder dazu bereit erklären, über Jahre und Jahrzehnte hinweg, oft in völliger Selbstlosigkeit, oft bis in ihren Tod hinein, unsere Genesungsbotschaft für die bereit zu halten und zu denen zu bringen, die noch leiden?

 

Bereit zu halten für die, die sonst sterben würden in ihrer Sucht. In ihrem Elend. In ihrem Sumpf und Dreck. Ich bin verantwortlich. Ja, ich.

 

- Und es begab sich, da er reiste gen Jerusalem, zog er mitten durch Samarien und Galiläa. Und als er in einen Markt kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer, die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: „Jesu, lieber Meister, erbarme dich unser!“ Und da er sie sah, sprach er zu ihnen: „Gehet hin und zeiget euch den Priestern!“ Und es geschah, da sie hingingen, wurden sie rein.
Einer aber unter ihnen, da er sah, dass er geheilt war, kehrte um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel auf sein Angesicht zu seinen Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete und sprach: „Sind ihrer nicht zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte und gäbe Gott die Ehre, denn dieser Fremdling?“ Und er sprach zu ihm: „Stehe auf, gehe hin; dein Glaube hat dir geholfen.“ (Lukas 17, 11-19) -

 

Einer von zehn. Wo aber waren die anderen neun?

 

Nur einer von ihnen kehrte um, fiel auf sein Angesicht und dankte Gott. Einer von ihnen kehrte um und pries den Herrn und war bereit von dem Wunder der Heilung zu erzählen, das er erlebt hat. Einer, dem es egal war, von den anderen belächelt zu werden. Einer dem es egal war, dass er gar kein Jude, sondern ein Samariter war. Einer der am Boden lag, ist hier mit Gottes Hilfe wieder aufgestanden und war sich seiner Verantwortlichkeit augenblicklich bewusst. Wer Gottes Stimme wirklich hören will, die spricht: "Steh auf!", der muss dazu zuerst einmal am Boden liegen. Muss auf seinem Angesicht liegen, um Gottes Allmacht und Größe spüren zu können. Wenn ich in meinem ganzen Hochmut und Stolz immer noch stehen will, kann ich nichts hören und nichts spüren. Nur einer fiel auf sein Angesicht und hatte erkannt, wer dieser Jesus wirklich ist. Und er hörte auch als einziger seine Stimme, die spricht: "Steh auf, dein Glaube hat dir geholfen. Dein Glaube hat dich gerettet."

 

Ja, jeder Suchtkranke, der wirklich kapituliert hat, weiß, was es heißt, am Boden zu liegen. Ich muss zuerst einmal wissen, wie es wirklich ist, am Boden zu liegen. Am Nullpunkt angekommen zu sein. Ohnmächtig. Orientierungslos. Hoffnungslos. Kraftlos. Hilflos. Leblos. Geistig tot. Seelisch tot. Lebendig tot. Ich muss zuerst einmal kapituliert haben, um die Stimme zu hören, die sagt: "Steh auf." Ich muss zuerst einmal wissen, was es heißt am Schweinetrog zu liegen und nicht mal mehr da was zum Essen zu bekommen, wie in der Geschichte vom verlorenen Sohn(Lukas 15, 11-32), um mich nach der Stimme des Vaters zu sehnen. Um die Stimme des Vaters von ferne zu hören, die ruft: "Steh auf und komm heim. Steh auf und kehre um." Doch dann ist Er da. Jesus. Das bezeuge ich jedem, der mich danach fragt. Dann ist Er da und sagt: "Steh auf. Dein Glaube hat Dir geholfen. Alles ist neu. Alles. Steh auf, Du bist gerettet. Du bist frei. Ich habe auch für dich am Kreuz bezahlt. Ich bin auch für deine Schuld gestorben."

 

"Waren es ihrer nicht zehn, die geheilt wurden? Wo aber sind die neun?"    

 

Ich war einer der neun. Zu bequem. Zu faul. Zu feige. Wollte keiner sein, von dem man hinter vorgehaltener Hand sagt: "Jetzt ist der auch noch verrückt geworden. Noch so ein Spinner. Noch so einer, der jetzt in die Kirche rennt. Noch so einer, der jetzt den Pfaffen hinterherspringt. Noch so einer, der jetzt von diesem Jesus erzählt. Noch so einer, der völlig den Verstand verloren hat. Noch so einer ..."  

Doch ich muss beileibe kein Christ sein, um diese einfache Botschaft über Dankbarkeit und Verantwortung zu verstehen. Doch alles hat seine Zeit. Und alles braucht seine Zeit. Auch die Kapitulation. Auch das Umkehren. Auch die Erkenntnis um die eigene Verantwortlichkeit. Auch der Mut, um um Jesu willen ausgelacht, verspottet und verschmäht zu werden.

 

Und dieser eine war ein Samariter. Samariter gehörten damals nicht zum auserwählten Volk der Juden. Waren  von den Juden nicht anerkannt und akzeptiert. Ein Volk zweiter Klasse. Fremdlinge, Unerwünschte, Untermenschen. Vermutlich schlimmer eingestuft wie heute der charakterlose Spieler, der hoffnungslose Säufer, der verwahrloste Junkie, der verkommene Schwerverbrecher, der elende Hurer, die schamlose Dirne, der asoziale Faulpelz, der stinkende Penner,  der ...“

 

"Ja, ich bin doch so gut. Ja, ich bin doch so anständig. Ja, ich bin doch so angesehen. Ja, ich bin doch so gebildet. Ja, ich bin doch so rechtschaffen. Ja, ich bin doch so fleißig. Ja, ich bin doch so ... Ja, ich bin doch so ..." 

"Nichts bin ich! Gar nichts!"

"Aber viele, die da sind die Ersten, werden die Letzten, und die Letzten werden die Ersten sein." (Matth. 19, 30)

"Ohne Christus bin ich gar nichts! Überhaupt nichts. Bin verloren."

Ja, und so stehen sie auch heute noch und rufen. Die Elenden. Die Verkommenen. Die Aussätzigen. Die Süchtigen. Nein, nicht in meiner Nähe. Nein, von ferne rufen sie. Von ferne, weil sie sich gar nicht mehr trauen, in ihrem Aussatz, in ihrem anders sein, in ihrer Erniedrigung noch irgendjemandem zu nahe zu kommen. Noch irgendjemanden anzusprechen. Menschen, deren Schreien nach außen hin nicht mehr hörbar ist, sondern die nur noch stumm nach innen, in ihre Seele hinein schreien: „Warum erbarmt sich denn meiner niemand? Warum hilft mir denn niemand? Ich bin doch auch ein Mensch.“

 

Viel zu lange habe ich mein eigenes Schreien vergessen. Viel zu lange wollte ich es gar nicht mehr hören. Weil schon das Hören mir weh tat. Heute, wo es mir doch so gut geht, will ich mein eigenes, längst vergangenes  Schreien doch nicht mehr hören. Viel zu lange habe ich vergessen, dass es erst Menschen waren, die mich durch ihr Vorleben von menschlichen und christlichen Werten auf einen Weg führten, auf dem auch ich endlich meine Würde als Mensch finden konnte. Viel zu lange habe ich nicht erkannt, dass es sich lohnt für Werte wie: "Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Treue, Vertrauen, Liebe, Bescheidenheit, Verantwortung, Demut, und für den Glauben und für Christus zu leben und zu kämpfen." Mich verantwortlich dafür zu fühlen und zu erzählen, dass es sich lohnt für Werte zu leben. Mich verantwortlich dafür zu fühlen, von dem Zeugnis zu geben, was ich durch das Vorleben von Werten und Verantwortung von den Menschen erhalten habe, die mich auf meinem Weg der Genesung begleitet haben. Mich verantwortlich dafür zu fühlen, Gott, der Welt und den Menschen auch wieder einen kleinen Teil von dem zurückzugeben, was ich so selbstlos und durch Gnade erhalten habe.  

 

Nur Einer von zehn. Und das war ein Samariter ... 

 

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